Köln. Es gibt keine Pflicht zur Integration – aber ein Recht auf Migration. So lassen sich zentrale Standpunkte und das Fazit der Podiumsveranstaltung „Su simmer all he hinjekumme“ („So sind wir alle hierhergekommen“) der „Aktion Neue Nachbarn Köln“ am 17. Januar 2020 im Klarissenkloster Kalk zusammenfassen. Bei der Veranstaltung mit 110 Gästen ging es um die Frage „Gesellschaftlicher Zusammenhalt und radikale Vielfalt: Wie geht das?“.
Hauptreferenten waren der Berliner Politologe, Antisemitismusforscher und Autor Max Czollek („Desintegriert Euch!“) sowie der Theologe und Sozialwissenschaftler Josef Becker vom Institut für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Münster.
Zu Beginn machte Stadtdechant Msgr. Robert Kleine deutlich, dass es immer hinzuschauen gelte, wenn unterschiedliche Kulturen zusammenkommen: „Was bedeutet das Verhältnis von Kirche und Staat? Was bedeutet das Verhältnis von Mann und Frau? Was bedeuten Demokratie und Freiheit?“ für den Einzelnen, nannte Kleine Kernfragen für das soziale Miteinander. Die Frage sei auch, ob Menschen das Multi-Kulturelle einer Gesellschaft als Bereicherung oder Gefährdung sähen.
Im Rahmen der „Aktion Neue Nachbarn“, die im Erzbistum Köln vor fünf Jahren als Flüchtlingshilfe gestartet ist, habe er in der Regel erlebt, dass Menschen gut miteinander zusammenleben wollten – ohne die eigene Identität aufzugeben, berichtete der Stadtdechant. Auch wenn die Menschen unterschiedliche Sprachen sprächen: „Es kommt darauf an, dass wir im Herzen und im Denken dieselbe Sprache sprechen“, so Kleine, „dass wir nämlich zusammengehören und dass Vielfalt ein Reichtum ist für eine Stadt.“
Problematisch am Konzept der Integration sei, dass immer die Dominanz einer Bevölkerungsgruppe darüber entscheide, ob eine andere „gut integriert“ sei. Hinzu komme die Erwartung, dass am Ende der Integration eine „harmonische Gesellschaft“ stehe, so Czollek. Diese Idee sei jedoch mit der pluralistischen Gesellschaft, in der wir heute bereits leben, nicht kompatibel, betonte der Autor.
Die Gesellschaft in Deutschland habe längst keine Wahl mehr, ob sie vielfältig werden wolle oder nicht, machte Max Czollek deutlich: „Sie ist es schon heute.“ Bereits ein Viertel der Deutschen habe einen Migrationshintergrund, noch mehr Menschen würden sich eher als post-migrantisch bezeichnen, als Teil einer Gesellschaft, die wesentlich durch die Erfahrung der Migration geprägt sei. Dies habe in Deutschland immer gegolten, mindestens „die letzten 1500 Jahre“ – jedoch sei die Gesellschaft nicht in der Lage gewesen, sich selbst so zu denken, erläuterte der Politologe.
Czollek machte darüber hinaus deutlich, dass es beim Thema Vielfalt nicht um eine Engführung auf das Thema Migration gehe. Die Sichtbarkeit von sexuellen Minderheiten, von weltanschaulichen Positionen, von ökonomischen Unterschieden sei in den vergangenen Jahren größer geworden. Die Konzepte von Integration und Leitkultur seien jedoch nicht in der Lage, dieser Vielfalt gerecht zu werden, kritisierte Czollek. „Die Konzepte verfehlen die politische und gesellschaftliche Realität.“
Dass Integration ein wechselseitiger dynamischer Prozess ist beziehungsweise sein müsste, erläuterte der Theologe und Sozialwissenschaftler Josef Becker in seinem Vortrag. „Von der Aufnahmegesellschaft wird eine Akzeptanzbereitschaft gefordert, die der Integrationsbereitschaft des Zuwandernden entsprechen muss.“ Integration werde in der aktuellen Integrationspolitik im Wesentlichen als Integration in eine Rechtsgemeinschaft verstanden. Daneben liege der Fokus auf der gesellschaftlichen Teilhabe.
Wichtige Integrationsfaktoren wären etwa
Daran schließe sich die Frage nach den kirchlichen Integrationsleistungen an, so Becker. Diese seien auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln:
Integration erfolge in eine bestehende Gesellschaft, die sich fragen müsse, ob nach einer gelungenen Integration „alles so weitergeht wie bisher“ oder ob die Integration von Geflüchteten oder Migranten „möglicherweise weltverändernd“ wirke, warf der Wissenschaftler Fragen auf. „Verändern sich gewohnten Sichtweisen auf gesellschaftliche Verhältnisse und Normen und die Welt, vielleicht sogar die Sichtweise auf Gott?“
Die wachsende Vielfalt in der deutschen Gesellschaft werde oft als Belastung, Herausforderung und Verunsicherung betrachtet. Es sei jedoch unerlässlich für die Gesellschaft, sich besser auf Pluralität zu verstehen, betonte Becker. Pluralität sei nicht nur eine Lebensform, sondern Ausdruck des Menschseins an sich und Teil des menschlichen Bedingtseins („human condition“). Der Mensch müsse sich Pluralität dennoch aktiv aneignen, sagte der Sozialwissenschaftler.
Das menschlich Verbindende in der Vielfalt werde nur erfahrbar, wenn Menschen sich begegnen können. Die aktuelle Migrationspolitik ziele jedoch darauf, dies zu verhindern, indem bereits die Einreise von Menschen verhindert oder Migrationskanäle massiv verengt und die Unterbringung der Menschen zentralisiert würden, kritisierte Becker.
Dass die Politik Migration verhindern wolle und das Asylrecht in Deutschland ausgehöhlt sei, wurde auch in der an die beiden Vorträge anschließenden Podiumsdiskussion kritisiert. Einig war man sich auch, dass „Abschiebung kein Weg“ sei.
„Menschen migrieren um die ganze Welt – und das sollte Normalität sein“, forderte etwa Dorsa Moinipour, Interkulturelle Promotorin vom Verein Migrafrica. Menschen haben ein Recht auf Teilhabe, doch die Realität sieht anders aus und reicht von Problemen bei der Wohnungssuche über Alltags-Rassismus bis zu Diskriminierung im Berufsleben. „Die Gesellschaft muss sich für Vielfalt öffnen“, forderte Moinipour.
Damit Menschen sich integrieren wollten, müssten Räume geschaffen werden, in denen sie sich entwickeln könnten, sagte der Geschäftsführer von Migrafrica, Amanuel Amare. „Sie müssen erkennen können, warum es sich lohnt, etwa die Sprache zu sprechen“, sagte er. „Doch daran fehlt es meist.“
Europa habe – anders als Südamerika, die USA oder Australien – in seiner Integrationsleistung versagt, meinte Elizaveta Khan, Geschäftsführerin des Integrationshauses Köln. Die Gesellschaft habe bereitwillig akzeptiert, dass es Grenzen gebe und dass das Asylrecht de facto aufgehoben sei durch die politischen Entscheidungen der vergangenen Jahre. „Wenn wir akzeptieren würden, dass jeder Mensch das Recht hat, sich zu bewegen, würden wir ganz anders mit den Menschen umgehen.“